Dienstag 10ten (10. November 1874)

Cosima Wagner Tagebücher

Luther- und Schillertag. – Ich las gestern in einer Zeitung, daß Hans eine sehr besuchte Matinee in London gegeben hat, ich danke es dem Schicksal, daß seine Laufbahn als Virtuose sich so gut gestaltet hat; wie viel anders hätte es kommen können, wie trostlos dann. 

Der Monat November für mich der inhaltsschwerste meines Lebens – soll wirklich in diesem auch die Götterdämmerung vollendet werden, so verstehe ich schweigend und schüchtern dich, erhabene Macht, die mich geführt! – – – 

An Dr. Pringsheim[i] geschrieben, welcher den Zusammenhang des Darwinianismus und des Wagnerianismus durch den singenden Urmenschen gefunden haben will. 

R. geht nachmittags spazieren, während ich Hausangelegenheiten und Kinder-Unterricht übernehme, unterwegs begegnen ihm, gerade wie er Rus streichelt und neckt, zwei arme Frauen, hohe Holzkörbe auf den Rücken tragend, sie rufen ihn an: »Ach! Herr Richard Wagner, haben Sie doch Mitleid mit uns; zu Haus ist der Mann, hat 8 Gulden Miete zu bezahlen, weiß nicht, woher er es nehmen soll.« R. gibt jeder von ihnen einen Gulden; wir besprechen den Fall, ob mehr zu geben gewesen wäre; R. sagt: »Hätte ich ihnen die ganze Miete gegeben, was wäre das noch gewesen? Gründlich kann man nicht abhelfen, doch sollte die Begegnung ein freundliches Zeichen für sie bleiben, und dazu reichten die zwei Gulden gerade hin.« – Ich wanderte ein wenig bei der Dämmerung einsam im Garten, sorgenvollen Sinns. Wie es auch kommen möge, tröstete ich mich, frei und freundlich hat sich die Jugend der Kinder gestaltet, das übrige bleibe den Himmlischen oder Irdischen anheim gegeben. – 

Abends Versuch, in Pr. Overbecks Schrift zu lesen. Sie verdrießt aber R. bald so, daß er sie aus der Hand gibt. Er liest mir dafür aus dem Werk des Generalstabes, und wenn man bei der Schlacht von Colombey wiederum zu schaudern hat darüber, was die Eigenmächtigkeit eines beschränkten Kopfes für entsetzlichen Schaden anrichten kann, so ist wiederum die Darstellung dieses Schlimmen durch denjenigen, welcher gewiß am meisten darunter gelitten hat, so großartig ruhig, einfach, daß es ganz erhebend wirkt.


[i] Alfred Pringsheim (1850-1941), später Prof. in München, Förderer Wagners, heiratete Hedwig geb. Dohm (1855-1942), Schwiegervater Thomas Manns; P. emigrierte 1939 in die Schweiz.

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