Montag 14ten (14. Dezember 1874)

Cosima Wagner Tagebücher

Unser Gespräch ist wie gewöhnlich erfüllt von dem gestern Gehörten. Ich sagte zu R., daß es mir bei der Anhörung der B.’schen Sonate gewesen wäre, als ob B. nach allen möglichen Formen griffe, Recitativ, Fugato, italienischer Canto, Figuration, um ein Etwas auszudrücken, was ihn erfüllt, wozu selbst die Musik nur ein Gleichnis ist. Darauf schien es mir anzukommen, ob einer dieses gewisse Etwas in sich hat, was eigentlich unaussprechlich ist, nicht aber ob er Melodien findet, mit Formen spielen kann. So selbst in der Philosophie, kein Rätsel kann sie lösen, ob aber der Philosoph die Rätsel in sich empfindet, darauf kommt es an, das hat Schopenhauer. – 

Neulich sagte R. so hübsch: Brahms komponiert, wie Bach hätte komponieren mögen. – 

Er frug mich gestern, ob ich wüßte, wie er seine neuen Orchesterwerke nennen würde: Schwankende Gestalten[i], er würde die ersten Verse der »Zueignung« als Motto davorsetzen. Wie ich ihm sagte, daß selbst die Fortsetzung »mein Lied ertönt der unbekannten Menge, ihr Beifall selbst macht mir bang«[ii], auf das Nibelungenwerk paßt, sagt er: »Ach nein, mein Lied ertönt dir, und sonst niemandem. Ich habe auch niemanden als dich je gehabt.« – 

Rubinstein bringt seine Klavier-Paraphrase der Rheintöchter-Scene, welche R. sehr befriedigt. Abends in Schopenhauer gelesen -, wie ich R. bemerke, daß besonders der eine große Passus über die Kantische Lehre[iii] (Parerga Seite 96-98. Band I) mir ein wahres Muster der Darstellung schien, welches man in alle Kompendien als solches aufnehmen und die jungen Leute analysieren lassen sollte, bittet er mich, es noch einmal zu lesen. Bis zur Punktuation, alles daran ist wunderbar. – 

Der von Frauenstädt[iv] angeführte Brief Schiller’s an Fichte[v] ergreift uns durch den moralischen Mut der Wahrhaftigkeit – wohin ist dieser heute? Wer hätte wohl die Kraft und die Größe, einen solchen Brief zu schreiben? – Richter schreibt einen nicht gerade erfreulichen Brief in Bezug auf Dr. Glatz, dessen Ausbildung er seiner Mutter anvertraut wissen will! –


[i] „Schwankende Gestalten“ stammen aus der Zueignung zu „Faust. Eine Tragödie“ und bezeichnen die Figuren aus „Faust. Ein Fragment“, den Goethe 20 Jahre zuvor geschrieben hatte und nun überarbeitete..

[ii] Das Zitat aus der Zueignung zum „Faust“ geht richtig weiter: „Mein Lied ertönt der unbekannten Menge, ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang“.

[iii] Über die Kantische Lehre: Bd. I, § 13, „Noch einige Erläuterungen zur Kantischen Philosophie“.

[iv] Julius F. Frauenstädt (1813 – 1879), Autor philosophischer Schriften, Anhänger, Erbe und Hrsg. Schopenhauers.

[v] Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814) dt. idealistischer Philosoph, 1794 Professor in Jena, 1799 im Atheismusstreit entlassen, 1805 in Erlangen, 1805 in Erlangen, 1810 Rektor der Universität Berlin.


Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Zueignung

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten,
Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt;
Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert
Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.

Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage,
Und manche liebe Schatten steigen auf;
Gleich einer alten, halbverklungnen Sage
Kommt erste Lieb und Freundschaft mit herauf;
Der Schmerz wird neu, es wiederholt die Klage
Des Lebens labyrinthisch irren Lauf,
Und nennt die Guten, die, um schöne Stunden
Vom Glück getäuscht, vor mir hinweggeschwunden.

Sie hören nicht die folgenden Gesänge,
Die Seelen, denen ich die ersten sang;
Zerstoben ist das freundliche Gedränge,
Verklungen, ach! der erste Widerklang.
Mein Lied ertönt der unbekannten Menge,
Ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang,
Und was sich sonst an meinem Lied erfreuet,
Wenn es noch lebt, irrt in der Welt zerstreuet.

Und mich ergreift ein längst entwöhntes Sehnen
Nach jenem stillen, ernsten Geisterreich,
Es schwebet nun in unbestimmten Tönen
Mein lispelnd Lied, der Äolsharfe gleich,
Ein Schauer faßt mich, Träne folgt den Tränen,
Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich;
Was ich besitze, seh ich wie im Weiten,
Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.

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