Mit einer Uraufführung und einer Installation im Festspielpark, dem virtuellen Drachenkampf und der „Malküre“ realisieren die Festspiele einen unkonventionellen „Ring“ an einem Tag.
Szene aus der Animation des Drachenkampfs mitten im Zuschauerraum des Festspielhauses. Vorlage: Jay Scheib
Wollten Sie nicht schon immer Siegfried sein? Na ja, der Held muss bekanntlich in der Nibelungen-Sage und in der Veroperung durch Richard Wagner ganz schön Federn lassen. Aber die Möglichkeit, mal eben einen virtuellen Drachenkampf zu absolvieren, kann selbst Kriegsdienstverweigerer ins Wanken bringen. Wo? In Bayreuth, am Grünen Hügel, direkt vor dem Festspielhaus. Wann? Nur noch am 19. August, also dem finalen Spieltag des multimedialen Diskurs-Projekts „Ring 20.21“, an dem es heuer zum dritten und letzten Mal sogar den Roten Teppich gibt: Er wird unterhalb des Königsbaus im Halbkreis ausgerollt für alle Karteninhaber der solitären, mit einer außergewöhnlichen Kunstaktion aufgemöbelten „Walküre“, die sich zusätzlich für „Sei Siegfried“ angemeldet haben.
In sechs von schwarzen Schleiern verhüllten Pavillons, die auf dem Roten Teppich stehen, bekommen die Besucher einen Helm mit Spezialbrille verpasst, der sie in eine erweiterte Realität versetzt. Die Animation führt ins Festspielhaus und in den Zuschauerraum, wo einem erst ein großer Raubvogel und schließlich Fafner höchstpersönlich Angst einjagt. Das mit Ausweich- und Festhaltebewegungen verbundene Drachenkampf-Abenteuer geht aber selbst dann gut aus, wenn man das Schwert fallen lässt. Für mich die überraschendste Erfahrung war, dass mir der nur einige Minuten dauernde Ausflug in die Virtual Reality viel länger vorkam, als er tatsächlich dauerte. Verantwortlich für „Sei Siegfried“ ist Jay Scheib, seines Zeichens Regisseur und Professor am Massachusetts-Institut für Technologie, der 2023 in Bayreuth „Parsifal“ inszenieren und um die Möglichkeiten der virtuellen Bühne erweitern wird.
Installation „The Thread of Fate“ von Chiharu Shiota im Festspielpark – Foto: Bayreuther Festspiele
Dass die Zeit zum Raum werden kann, erlebt man bei Ring 20.21, dem Ersatzprogramm für die wegen Corona verschobene Neuinszenierung der „Ring“-Tetralogie, auf unterschiedliche Weise. Am meisten kontemplativ gelingt das der im Festspielpark installierten, frei zugänglichen Skulptur „The Thread of Fate“ von Chiharu Shiota. Das leuchtend rote, von Metallreifen gehaltene, elastische Geflecht ist inspiriert von den Nornen in der „Götterdämmerung“. Das Netzwerk aus „Schicksalsfäden“ steht wie die drei mythischen Figuren unter anderem für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und wird hoffentlich bis zum Festspielende die darin spielenden Kinder unbeschadet ausgehalten haben. Umgekehrt natürlich auch.
Schon im Vorfeld prognostizierte Festspielleiterin Katharina Wagner, dass der „aufregende Kern“ im „Ring“-Ersatzprogramm die komplette „Walküre“-Aufführung im Festspielhaus sein würde. Womit sie Recht hatte. Bei der Premiere der im Wagnerianer-Volksmund schnell zur „Malküre“ mutierten Oper am 29. Juli wurde heftig gebuht, aber auch gejubelt. Mit der Performance des österreichischen Aktionskünstlers Hermann Nitsch und seinen Malassistinnen und -assistenten wird die Öffnung der Festspiele für bildende Kunst jenseits gängiger Musiktheaterpraxis am ausführlichsten durchexerziert. Der fast 83-jährige Nitsch versteht sich wie Richard Wagner als Gesamtkunstwerker und hat wegen des Festspielengagements (und wegen Corona) die Wiederaufnahme seines ursprünglich für heuer geplanten mehrtägigen Prinzendorfer Orgien-Mysterien-Theater eigens auf nächstes Jahr verschoben. In Bayreuth konzipierte und dirigiert er eine spektakuläre Malaktion in drei Teilen, bei der die Bühne praktisch zur Leinwand wird.
Jeder der drei „Malküre“-Akte beginnt noch farblos – Foto: Enrico Nawrath
Wenn der Vorhang aufgeht, sieht man den Bühnenboden und drei acht Meter hohe Wände noch in unschuldigem Weiß, dazu aufgereiht viele Farbeimer, drei Besen und einfache Holzstühle für die Hauptsolisten. Die Farben – Künstler-Stofffarben, Pigmente, Binder und Spachtelmasse eines deutschen Herstellers von Theater-Malsaalfarben – werden in einem aufwändigen Vorbereitungsprozess gemischt und verdünnt. Zehn erfahrene, ganz in Weiß gekleidete Nitsch-Assistentinnen und -Assistenten führen die sogenannten Schüttbilder aus, die von der Struktur her sehr unterschiedlich sind.
Ein Teil der Akteure begießt die drei Wände in schmalen Rinnsalen, breiteren Streifen und Bahnen in Art und Reihenfolge der Farben so, wie Nitsch es festgelegt hat. Zu Beginn ziehen die sehr gut deckenden Farben vertikal von oben nach unten ihre Bahn, gegen Ende, wenn das Triptychon zunehmend gefüllt ist, nimmt man sie eher umgekehrt verlaufend, wie Stalagmiten, wahr. Während die Aktion an den Wänden fast lautlos abläuft, geht die Beschüttung der Bodenmalfläche nicht ohne Geräusche ab. Je nach Menge landen die Farben aus den Eimern hier mit einem ziemlich lauten Platschen – und weitgehend ohne Rücksicht darauf, was sich musikalisch abspielt. Zusätzlich rühren die Assistenten mit bloßen Händen Kreise in die Farblandschaften, bearbeiten sie mit breiten Besen und hinterlassen ihre Fußspuren.
Die Solisten (rechts Lise Davidsen) brauchen starke Nerven, wenn es hinter ihnen laut pflatscht – Foto: Enrico NawrathKreuzigungsszene mit Statistin, rechts Siegmund (Klaus Floroian Vogt) und Sieglinde (Lise Davidsen) – Foto: Enrico NawrathWalkürenszene mit Sieglinde (rechts Lise Davidsen) und Malassistenten oben und unten – Foto: Enrico NawrathZunehmender Farbenrausch in Rot – Foto: Enrico Nawrath
Es ist – auch wenn zwei kleine Prozessionen mit Kreuzigung, Blutbegießung und Monstranz eingebaut sind, die zum kultischen Kunstkosmos von Hermann Nitsch gehören – in erster Linie eine Farborgie. Bei Siegmund und Sieglinde dominieren zunächst grüne, blaue und violette Farbverläufe und -mischungen, bevor sich das bevorzugte Rot Bahn bricht. Der zweite Akt beginnt mit Gelb und Orange, bevor er sich zu Wotans Scheitern eindüstert in finsteres Schwarz und doch auch wieder Weiß gewinnt. Die bunte, helle, warme Stimmung des Walkürenritts führt schließlich in eine rote Farbexplosion. Ob das etwas mit Wagners „Walküre“ zu tun hat, bleibt der Bereitwilligkeit und Offenheit des Publikums überlassen. „Diejenigen, die Nitsch nicht oder falsch kennen“, schrieb unser Mitglied und Nitsch-Kenner Lucien Kayser aus Luxemburg im Vorfeld, „werden einen grandiosen Koloristen entdecken können, Klangfarben und Farbklänge werden zusammenfinden.“ Stimmt.
Die „Malküre“ bietet neben einigen herausragenden und einigen sehr enttäuschenden Sängern auch einen neuen Dirigenten: Pietari Inkinen heißt der Hügel-Debütant am Pult, der bei der Premiere mit seinen langsamen Tempi bei Publikum und Presse allerdings auch auf Ablehnung stieß. Es bleibt abzuwarten, wie sein Dirigat 2022 wirkt, wenn sich auf der Bühne nicht eine abstrakte Malaktion, sondern die Neuinszenierung von Valentin Schwarz abspielt. Jetzt, in der Vorstufe, mutete manches, was aus dem Graben kommt, zwar in der Balance und Koordination gekonnt, aber spannungslos an. Der erzählerische und betont lyrische Duktus Inkinens ist hingegen vielversprechend. Vor allem die ganz leisen orchestralen und solistischen Stellen sind zum Hinknien schön.
Allerdings nur, wenn die wie bei einem Oratorium in schwarze Kittel gekleideten Sängerinnen und Sänger hohe Pianokultur mitbringen. Was in der aktuellen Besetzung nur teilweise gegeben ist. Siegmund und Sieglinde sind mit Klaus Florian Vogt und Lise Davidsen ein Traumpaar, Christa Mayer als nuancierte Fricka und der finstere Bass-Neuling Dmitry Belosselskiy als Hunding sind ihnen fast ebenbürtig. Von wechselnder Qualität die Walküren, allen voran Iréne Theorin als Brünnhilde, deren unschönes Vibrato und Stimmschärfe sich wie Mehltau über den Abend legen, von dem man zudem – zumindest aus ihrem Mund – so gut wie kein Wort versteht. Da reüssiert Tomasz Konieczny als Wotan um einiges mehr. Aber man wünschte sich, er sähe seinen Gesang ähnlich skrupulös wie der ursprünglich dafür vorgesehene und kurzfristig ausgestiegene Günther Groissböck.
Durch Einspringer Konieczny kam vermutlich bei der Premiere etwas Unvorhergesehenes dazu. Der Sänger versuchte, deutlich mehr als vorgesehen, zu agieren, was zum Nachteil der Produktion leider ansteckend wirkte. Denn das war wiederum der Abstraktion abträglich – und für den „heiligen Ernst“, in dem die Nitsch-Assistenten stoisch ihre Arbeit verrichteten. Nach Auskunft von Festspielpressesprecher Hubertus Herrmann verbleiben die bei den Aufführungen entstehenden Kunstwerke im Eigentum der Nitsch Foundation. Das Kunstwerk der Vorstellung am 29. Juli wird der Stadt Bayreuth/Museum Wahnfried dauerhaft unentgeltlich zur Verfügung gestellt.
Die Rheintöchter plantschen im Festspielteich, während die von Nikolaus Habjan geführte Erda-Puppe am Sarg von Loge hantiert – Foto: Enrico Nawrath
Bleibt noch „Das Rheingold“. Der Vorabend des Vierteilers findet bei Ring 20.21 ebenfalls im Festspielpark statt, in einem eingezäunten Bereich rund um den Teich, in den bei der zeitgenössischen Oper „Immer noch Loge“ von Gordon Kampe (Komposition) und Paulus Hochgatterer (Libretto) nicht nur die Rheintöchter steigen. Als Regisseur der Uraufführung konnte Katharina Wagner den für seine Arbeit mit selbst gebauten Klappmaulpuppen berühmt gewordenen Nikolaus Habjan engagieren. Tatsächlich ist das ein Gewinn, denn Habjan führt die Rollstuhl fahrende Urmutter Erda so virtuos und synchron mit der großartigen Solistin Stephanie Houtzeel, dass man streckenweise vergisst, dass es sich um eine Puppe handelt.
Diese Puppen haben einen ganz eigenen, auch gruseligen Reiz, eine eigene Schönheit, die das Geschehen nach der Apokalypse der Götter in einer Mischung aus Groteske und Poesie lebendig werden lassen. Zwei Spieler verkörpern die Rheintöchter, deren dritte nur knapp überlebt hat und behutsam im Wasser mitgeführt wird. Erda, die in ihrem Rollstuhl auf einer kleinen Rampe zum Wasser kommt (Bühnenbild und Kostüme: Julius Theodor Semmelmann) hält Gericht über den Walhall-Brandstifter Loge, dessen sängerisches Alter Ego (Günter Haumer) ebenso unerschrocken in den wabernden Kunstnebel und ins Wasser steigt wie Daniela Köhler als Rheintochter. Was die drei Solisten und das Kammerorchester mit sieben Musikern samt elektronischer Verstärkung von sich geben, ist eine abwechslungs- und anspielungsreiche Mischung aus Wagner und Weill, Walzer und Marschmusik, kurz: ein frecher Anschlag auf konservative Opernohren.
Daniela Köhler (hinten) als wenig wasserscheue Rheintochter, flankiert von zwei Rheintöchter-Puppenspielern – Foto: Enrico Nawrath
Mit den Auftragswerken haben die Bayreuther Festspiele aus der Pandemie-Not eine Tugend gemacht. Das Projekt Ring 20.21 hat dafür gesorgt, dass – frei nach dem Motto „Hier gilt’s der bildenden Kunst!“ – ein frischer Werkstatt-Wind am Grünen Hügel weht. Was die Festspielleiterin aber nicht davon abhalten sollte, beim Kerngeschäft nachzubessern. Denn ohne möglichst durchgehend richtig gute Hauptsolisten, die im Wagnerfach leider rar sind, wird sich auf Dauer das Haus nicht füllen lassen, selbst wenn die Kundschaft aus Übersee wieder kommen kann.
Langversion von zwei hier zusammengefassten Artikeln, die zuerst auf www.fraenkischertag.de veröffentlicht wurden und gedruckt im Fränkischen Tag vom 31. Juli bzw. 3. August 2021 erschienen sind.