Dienstag 3ten (3. November 1874)

Cosima Wagner Tagebücher

Diese Nacht stand R. wiederum auf, las in dem Generalstabswerk, dessen Großartigkeit in der Einfachheit der Darstellung ihn sehr anzieht. Völlig übermenschlich, findet er, erscheinen einem die Menschen, welche einen solchen Krieg lenken, und gewiß kann keine Aufregung [mit] der erhöhten Geistestätigkeit, welche in solcher Zeit bei Moltke z.B. stattfindet, verglichen werden, es ist wie ein Spiel, wie ein Rechenexempel, aber mit welchem Material wird gerechnet, mit Heldenmut und Menschenleben; dem kann nichts gleichkommen. – 

Besprechung unserer Finanzen, Entschluß gefaßt, aus meiner Rente die Pension der Kinder zu bezahlen und Hans’ Fonds unberührt [zu] lassen. Herr Feustel hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß wir würden zu schwimmen und waten haben, bis wir in Ordnung seien, und mein kleiner Fonds ist verzehrt! – – 

Der Kalender von Schiller[i], welchen R. mir zu lesen gegeben, rührt durch seine Genauigkeit – mir ist es, als ob er den Tod jeden Tag erwartet habe und nun Frau und Kindern die Lage deutlich machen wollte. Großartig darin das Ignorieren jedes äußerlichen Erfolges. – 

Nachmittags Kaffeegesellschaft bei Bonin Bibra[ii]. Heimgekehrt finde ich Frau Vitzthum angekommen, welche uns insofern eine kleine Enttäuschung bereitet, als wir sie uns groß und schlank vorgestellt hatten und sie klein und soubrettenartig ist, also nicht nur keine Sieglinde, sondern selbst keine Walküre! – 

Friedel[iii] verursacht mir einen ziemlichen Schrecken durch den plötzlichen Ausbruch eines Ohrenkatarrhs, welchen glücklicherweise der Dr. für unschädlich erachtet. – 

Abends wird musiziert, aus den Meistersingern, ich gedenke dabei herzinnigst Marie Muchanoff’s, welche so schön hier mit empfand! Der Abend wird sehr durch die Rückkehr unseres Macedoniers erheitert, welcher R. ein Nargileh[iv], mir eine türkische Decke, den Kindern türkisches Konfekt mitbringt. – 

Spät abends meldet mir R. die eben erhaltene Nachricht vom Tode seines Bruders[v], Betrachtungen über die Nichtigkeit gewisser Familienbeziehungen; letztes Wiedersehen mit dem Bruder so nichtssagend – –


[i] Kalender auf das Jahr 1802.

[ii] wahrscheinlich Frau von Ernst Freiherr von Bonin (1806-1878), Naturforscher und Schriftsteller, lebte seit 1850 in Nürnberg.

[iii] Siegfried.

[iv] Orientalische Wasserpfeife.

[v] Albert Wagner war am 31. Oktober in Berlin gest.

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