Freitag 15ten (15. Mai 1874)

Cosima Wagner Tagebücher

Gestern am Himmelfahrtstag war das Wetter schön und ich konnte wieder ausgehen, heute wiederum regnerisch. – 

Wir sprachen beim Frühstück vom „T. Andronicus“, ob er ächt wohl sei? Dann von unseren besonderen Liebligen unter den Stücken, R. sagt, daß das letzte Mal, daß wir „Lear“ gelesen hätten, die ungeheure Steigerung, das Kommen und Gehen, die Scenen-Einteilung, die ungeheure Rapidität und dabei doch die Gemächlichkeit ihm einen ganz besonderen Eindruck gemacht hätten, sonst wäre „Othello“ wohl im am innigsten an das Hertz gewachsen. Mir bleibt „J. Caesar“ – ich weiß selbst nicht warum, nicht das liebste (wie könnte man so sprechen) – wohl aber ganz eigenartig ergreifend. – Wiederum werden Briefe von R. feil geboten, einer an H. v. Bülow, Juni 1858, und das Manuskript vom „Judentum in der Musik“!! 

R. träumte von einer Aufführung von Tristan und Isolde in Dresden mit Balet und gänzlicher Veränderung von Text und Musik, nur einzelne Figurationen beibehalten. Herr Rietz[1] mit ergrautem Kopf dirigierte – „so müssen sich die Leute meine Sachen herrichten, um sie zu geben“, habe R. gesagt, sei aber dabei in Wut ausgebrochen. – 

Ich erhalte einen Brief des Herrn Muchanoff, welcher mich im Namen seiner Frau bittet, nicht nach Warschau zu kommen, zugleich auch von ihren entsetzlichen Qualen mir erzählt. Dies drückt mich tief nieder und, Gott weiß wie, unwillkürlich der Vers „wer nie sein Brot mit Tränen aß“[2] mir laut entschlüpft, und ich R. sehr dadurch reize; er sagt mir, er sei der Ausdruck der Not eines Bettlers und können nicht auf seelische Leiden bezogen werden. 

Ich schweige und finde dann beifolgenden Zettel* auf meinem Arbeitstisch, das Zitat von Liszt bezieht sich auf eine Anekdote, die ich erzählte: Meine Mutter weinte einst fortwährend bei Tisch, da frug sie der Vater wie oben angeführt[3].

Nachmittags kommt eine Depesche von der Freundin! Ich verkrieche mich förmlich, um zu weinen! Abends Fortsetzung von „Titus Andronicus“, durch die unerhörten Rohheiten und Kraßheiten [hin]durch erkennen wir an einzelnen Zügen (Knieen vor den Stienen, Aron’s Vaterfreuden, der Wahnsinn des Titus, Lavinia’s Suchen im Buch etc.) die unverkennbare Hand des Göttlichen! „Daß alles dies sich bis zum „Hamlet“ aufgebaut hat, ist wohl merkwürdig“, sagt R.


[1] Julius R. Rietz (1812-1877) Kapellmeister an der Dresdner Hofoper.

[2] Johann Wolfgang von Goethe

[3] “Pleurons nous ou dînons nous?”

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