Am Morgen ertönt das Idyll und am Schluß »Sagt mir, Kinder«[1], R. und ich aufgelöst in Tränen! Nachher erfahre ich, wie dieses ganze Geheimnis von R. geführt worden ist! Die Hofer Kapelle ist engagiert worden, er hat die Probe gestern im Hotel Sonne geleitet. Er erzählt mir, wie gut die Kinder sich bei der Probe benommen hätten, ohne Ziererei und doch bescheiden.
Wir frühstücken im Saal, die Musiker spielen aus Lohengrin, Tannhäuser, Die Meistersinger. Seliger Tag! In Tönen hehr, in Worten süß, sagt mir R., daß ich meinen Geburtstag segnen darf, da er ihn so feiert. Wie wurde mir diese Krone zuteil! …
Schöner Abend mit den Kindern, weihevoll schön alles. »Tat twam asi«, ruft mir R. immer zu, »das bist du, du bist alles, durch dich ist alles hervorgerufen!« … Gestern beim Abendbrot mußten wir sehr lachen, wie R. erzählte, er sei jetzt so faul, daß er dächte, er müsse sehr leuchten (das faule Holz leuchtet).
Das brachte uns auf das Od des Bon Reichenbach[2], und er erzählte, wie eine Nacht, als seine Frau Minna nicht hätte schlafen können, sie ihn nach der Uhr gefragt hätte, und zwar in einer ganz dunklen Stube, er habe die Uhr in die Hand genommen und gesagt, elf Minuten vor 9, wie sie über »die Unverschämtheit« gelacht, habe er Licht gemacht und erkannt, daß er ganz richtig gesehen. (Am Rand eingefügt: An Marie Much. Gedacht!) –
Zu ernsten Betrachtungen werden wir geführt dadurch, daß R. dem Pr. Nägelsbach, unserem Nachbarn, begegnet und dieser auf die Frage, wie die Feiertage begonnen worden seien, erwidert: »Nicht gut, unser jüngstes Kind starb uns um 10 Uhr! Als ob es uns die Freude nicht hätte verderben wollen – wir konnten noch den anderen bescheren; wie wir in die Stube dann traten, lag es im Sterben.« –
Ein Maurer stürzte heute vom Theater herab und blieb tot. Es gemahnt einen an Eduard und Ottilie[3], wenn man dabei immer glücklich sein will und ist, doch was kann das Glück der Liebe, dieser leuchtende Stern über allem Ungewitter, trüben? … Wie ich abends R. sagte: Das sei mein schönster Geburtstag gewesen, frug er mich, weshalb, ich erwiderte: Weil die Götterdämmerung vollendet ist und damit die eigentliche Sorge.
[1] „Kinder-Katechismus zu Kosel’s Geburtstag”: Am Weihnachtstag 1873 hatten Richard und die Kinder Cosima mit dem „Kose- und Rosenlied“ überrascht. Für den Weihnachtstag 1874 schrieb Richard eine Orchesterversion, die er heimlich mit den Kindern und dem Hofer Orchester im Hotel Sonne einprobte. Diese Version (WWV 106B) enthält ein ausgedehntes Orchesternachspiel, dass das Erlösungsmotiv aus dem Ring aufgreift, vermutlich unter Bezugnahme auf die Vollendung der Götterdämmerung. Cosima schreibt auf eine leere Seite der Partitur: “Von meinen Kindern mit Orchesterbegleitung gesungen am Weihnachtstage 1874 um 8 Uhr Morgens in der Halle (auf der Gallerie) von Wahnfried.”
[2] Karl Freiherr von Reichenbach (1788-1869), dt. Industrieller und Naturphilosoph, postulierte die Existenz der Lebenskraft „Od“ (von Odin), eine nicht wahrnehmbare, vom Menschen ausgehende Kraft; so könnten ua. „Sensitive“ im Dunkeln schwache Lichterscheinungen im Umfeld von Magneten wahrnehmen.
[3] Eduard und Ottilie aus Goethes „Wahlverwandschaften“.