Sonntag 10ten (10. Januar 1875)

Cosima Wagner Tagebücher

Am Morgen erzählt mir R., welche sonderbar maliziöse Züge er neulich in einer Autobiographie von Meinardus von Felix Mendelssohn gelesen, wie dieser sich und die umstehenden prüfenden Herren damit unterhalten habe, die vorspielenden Schüler zu karikieren, worunter auch ein Verwachsener gewesen wäre[1]. –

Ludwig Siegfried Meinardus (1827-1896)

dt. Komponist, 1865 Lehrer am Konservatorium in Dresden, 1874 Hamburg, schuf Oratorien, Kammermusik und Symphonien, schrieb »Ein Jugendleben«, 2 Bde. 1874.

Von Detroit in Amerika wiederum ein Patchen[2] – R. erwidert schön, er wünscht dem Kind einen ernsten Glauben. – Zu Mittag Bonim Aufsess, Frau Muncker und Pr. Fries; abends auch mehrere Freunde. Ein wenig viel für R.


[1] Besagte Stelle aus Meinardus, Ein Jugendleben: „Als Sigfrid sich in respektvoller Ferne von jenem Tische niedergelassen hatte, bemerkte er dort bald eine auffällige Heiterkeit, die allem Anscheine nach mit den, von den geängsteten Zöglingen geleisteten Musikvorträgen in Kausalverhältniß stand. Der Munterste des hohen Tribunals war ohne Zweifel Mendelssohn, der, indessen er eifrig mit Papier und Feder beschäftigt schien, in der auf Feierlichkeit berechneten aüsseren Ausstattung des, für die zu Prüfenden ebenso ernsthaften, als peinlichen Aktes durchaus kein Hinderniß erkennen mochte, sich selbst der natürlichsten Lachlust zu überlassen und auch die Kollegen an der Gerichtstafel dazu hinzureissen, was seiner Autorität, gepaart mit der bekannten überwindenden Liebenswürdigkeit seines Wesens, sehr leicht gelang. – Sigfrid entschuldigte zunächst vor sich selbst diese Erscheinung: er meinte sie damit erklären zu sollen, daß ein Mann von Mendelssohns hohem Künstlerrange unmöglich anders als heiter berührt werden könne durch befangene haüfig wiederholte Vorträge derselben Übungsstücke und dergleichen. Indessen als die Heiterkeit auch die der Richterbank zunächst sitzenden Zöglinge zu ergreifen begann und sich in der Corona immer weiter ausbreitete, konnte jener Erklärungsgrund nicht mehr vorhalten, sondern mußte einer anderen Ursache das Feld raümen. Diese fand sich denn vor in Form mehrerer Blätter, die in geschickter Federzeichnung, von Mendelssohns auch in dieser Kunst geübten Meisterhand, mit wenigen Strichen sehr leicht zu erkennende Zerrbilder, Karrikaturen einiger derjenigen Zöglinge darstellten, welche soeben ihre einstudirten Probestücke vorgetragen hatten. Einer dieser Beklagenswerten, der obendrein durch einen Fehler seines Körperbaues auffiel und in Sigfrids Nähe saß, bekam unglücklicherweise das Blatt in die Hände, welches am meisten belacht zu werden schien. Es stellte das eigene Zerrbild des Verwachsenen dar und ließ über die karrikirte Persönlichkeit nicht den leisesten Zweifel aufkommen. Der Getroffene zerdrückte mit dunkler Röte des Zorns das verlezende Blatt in seiner Hand, ließ es auf den Fußboden fallen, bedeckte es mit dem Schuh – und mit seinem Tuche bedeckte er die Augen.“

[2] bezieht sich auf den in der Fußnote zum 17. Dez. 1874 erwähnten Zeitungsausschnitt aus »Anzeiger des Westens«, Stadt St. Louis: Richard Wagner in Detroit – getauft. Der Wirth Wagner in Detroit, sondern Zweifel ein ehemaliger Musiker, ließ dieser Tage seinen Jüngstgeborenen ‘confessionslos’ taufen. Er brachte den jungen Weltbürger in das Lokal, wo die gewöhnliche Abendgesellschaft versammelt war und einer der Stammgäste hielt, dem jungen Zukunftshornisten einen Schluck Rheinwein einflößend, folgende Ansprache: ‘Wir, die heutige Abend-Gesellschaft, taufen Dich im Namen der Humanität. Du sollst gedeihen und groß werden und sollst Künste und Wissenschaften erlernen, ohne gläubig zu werden. Du sollst auch lieben Weib, Wein und Gesang und auch den schönen Hörnerklang. Wahrheit und Gerechtigkeit sollst Du allezeit bezeigen und Dich niemals vor dem allmächtigen Dollar beugen. Doch das Größte auf Erden sollst Du als Musiker werden und zur Stärkung, das alles zu sein, trinke einen Schluck Rheinwein, Dein Name soll Richard Wagner sein. Amen!’

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