Im Münchner Nationaltheater ist an Pfingsten mit der Neuinszenierung von Aribert Reimanns „Lear“ wieder ein fast schon normaler Spielbetrieb angelaufen.
„Lear“ im Naturkundemuseum: Christian Gerhaher in der Titelrolle. – Foto: © Wilfried Hösl
„To be or not to be“ sinniert Lear am Anfang vernehmlich, als wäre er Shakespeares Hamlet. Und betrachtet dabei ein riesiges Insekt, das er aus seiner musealen Aufgespießtheit hebt. Wo sind wir hier? Im Münchner Nationaltheater, in dem Zweiteiler „Lear“ von Aribert Reimann, den Christoph Marthaler wie immer höchst artifiziell, auf seine autistische, ironische und doch transparente Art inszeniert hat.
Endlich wieder eine große Opernaufführung mit Publikum! Zwar durften, nach professionell abgespulten Corona-Hygienemaßnahmen, nur rund 700 Besucher in den Zuschauerraum, der für 2100 ausgelegt ist. Aber umso mehr aufnahmebereit, konzentriert und schließlich begeistert reagierten die Glücklichen, die am Pfingstsonntag die jüngste Premiere der Bayerischen Staatsoper erleben konnten.
Intendant Nikolaus Bachler hat ans Ende seiner letzten Spielzeit drei Neuproduktionen von Werken gepackt, die in München uraufgeführt wurden und von dort aus die Opernwelt erobert haben: Mozarts „Idomeneo“ (1781), Wagners „Tristan und Isolde“ (1865) und Reimanns „Lear“ (1978). Letzterer brachte es seither andernorts auf über dreißig Neuinszenierungen und etliche Wiederaufnahmen, eine Rarität bei Opern des 20. Jahrhunderts.
„Lear“ ist ein Schauerstück. Schon bei Shakespeare ist „des Mordens und des Schlachtens kein Ende“. Auch die Veroperung Reimanns (Libretto: Claus H. Henneberg), deren Musik auf einem Zwölf-Ton-Reihensystem fußt, ist monströs. Cluster-Schichten, Schlagzeug-Ausbrüche, Vierteltonabstufungen, ständige rhythmische Verschiebungen und die Steigerung zur apokalyptisch wuchtigen Sturmszene machen es weder den extrem geforderten Solisten und Musikern noch dem Publikum leicht.
„Alle sind Einsame in diesem Dröhnen“, merkte der Komponist dazu an – eine Wirkung, die sich nach langer Corona-Abstinenz von echten Opernvorstellungen vermutlich noch verstärkt hat. Der Abend ist szenisch und musikalisch eine Herausforderung, eine Zumutung auch, die von allen eine Kunstanstrengung erfordert – auch vom sonst eher passiven Zuschauer, der dafür einen ungeheuer intensiven Raumklang erfährt.
Dass Christoph Marthaler, der dekonstruiert, verrätselt und nicht gern psychologisiert, für diesen Musiktheaterbrocken der passende Szeniker sein könnte (Mitarbeit: Joachim Rathke), mag überraschen. Wer sich aber auf seine anti-naturalistische, schräge, aber innerliche Kunstfigurenwelt einlässt, wird belohnt – trotz mancher Bilder, die schon vorhersehbar, abgegriffen, museal sind.
Doppelte Familienaufstellung plus Narr im Museumssaal mit Kathedralencharakter und Empore – Foto: © Wilfried Hösl
Es ist kein Zufall, dass Anna Viebrock einen Bühnenraum, der sich am Naturkundemuseum Basel orientierte, erneut aufgegriffen und im subtilen Licht von Michael Bauer modifiziert hat: „Natur“ ist nämlich das einzige Wort, das alle Hauptfiguren in dieser gnadenlosen doppelten Familienaufstellung in den Mund nehmen – und passt wie die Faust auf Lears blaues Auge. Oder hat er altersbedingt etwa schon die Fallsucht?
Christian Gerhaher als Lear, rechts Marc Bodnar als Museumskastellan – Foto: © Wilfried Hösl
Hüftsteif, unsicher ist sein Gang, ein Transportwägelchen dient ihm als Rollator. Da steht er in seinem dunkelblauen Anzug, verwirrt und schrecklich verloren: ein penibler Sammler und Ordnungsfanatiker in einer Welt, die längst aus den Fugen geraten ist. Christian Gerhaher verkörpert den Altersstarrsinn großartig, ja mit einer verzweifelt ratlosen Würde, die keineswegs aufhört, wenn er unter seinem dann mit Orden übersäten Sakko keine Hosen und nur mehr Sandalen trägt.
Lear, der statt einer vernünftigen Machtübergabe an seine drei Töchter von diesen unsinnige Liebesbeweise verlangt hat, verliert alles. Am Ende sind fast alle, die in der kurzen Rahmenhandlung von Museumsbesuchern bestaunt werden, tot. Darunter Graf von Gloster (Georg Nigl), dem erst noch brutal die Augäpfel ausgerissen werden und dessen zwei Söhne – Edgar (Andrew Watts) und Edmund (Matthias Klink) – sich genauso bekriegen wie die königlichen Schwestern samt Gatten.
Lear oben rechts (Christian Gerhaher) und links von oben Cordelia (Hanna-Elisabeth Müller) und König von Frankreich (Edwin Crossley-Mercer), Regan (Ausrine Stundyte) und der Herzog von Cornwall (Jamez McCorkle), der Herzog von Albany (Ivan Ludlow) und Goneril (Angela Denoke) – Foto: © Wilfried Hösl
Goneril (Angela Denoke) und Regan (Ausrine Stundyte) sind im Wortsinn zwei schreckliche Giftspritzen, denn die Aerosole, die sie reichlich aus Flakons versprühen, sind garantiert nicht nur Parfüm. Nur bei Cordelia (Hanna-Elisabeth Müller), der Jüngsten und einzigen, die den Vater nicht belügt, darf es auch uneindeutiger sein: Was mag es bedeuten, dass ihr Rock im zweiten Teil nur vorne durch eine Art Fell verlängert ist?
In der Vitrine Hanna-Elisabeth Müller als Cordelia und Christian Gerhaher in der Titelrolle. – Foto: © Wilfried Hösl
Die Kostüme von Dorothee Curio wecken ansonsten Assoziationen an diverse Herrscherfamilien aus dem letzten Quartal des 20. Jahrhunderts, setzen Farbakzente und füllen mit den Geharnischten souverän die Lücken des auf der Bühne leider nicht präsenten Chors. Zwei Akteure – Graham Valentine als mehrsprachiger Narr und Marc Bodnar als der zum französischen Museumskastellan mutierte Ritter – sind regelmäßige Marthaler-Mitwirkende.
Museale Rahmenhandlung mit „Exponaten“ und Besuchern – Foto: © Wilfried Hösl
Die zwölf Gesangssolisten spielen und singen vorzüglich. Besser geht es derzeit nicht. Allen voran Christian Gerhaher, dem es bei seinem Debüt als Lear gelingt, sofort neue und bleibende Akzente zu setzen, trotz des legendären Erstinterpreten Dietrich Fischer-Dieskau am selben Haus. Zudem bringt er im extrem lauten ersten Teil ein auch dauerhaft machtvolles Stimmvolumen ein, das man von dem sonst so subtil differenzierenden Liedinterpreten in dem Ausmaß nicht erwartet hätte.
Die Orchestermusiker unter dem aufmerksamen, von Co-Dirigent Volker Perplies unterstützten Jukka-Pekka Saraste brillieren nicht nur bei den fünf Zwischenspielen. Dass das schwere Blech, das umfangreiche Schlagwerk und der Chor (Stellario Fagone) derzeit nicht im Saal präsent sind, sondern übertragen werden, ist einerseits ein großes Manko der Aufführung. Andererseits reicht es dem Publikum, das an übersatten Raumklang gar nicht mehr gewöhnt ist, momentan auch so. Großer erschöpfter Beifall.
Besuchte Premiere am 23. Mai 2021, Karten für weitere Vorstellungen auf der Staatsopern-Homepage. Die Vorstellung am 30. Mai wird um 18 Uhr live und kostenlos auf Staatsoper.TV gestreamt, danach ist sie als Video on Demand bis 1. Juli abrufbar. Kopfhörer wären dafür gut, oder eine gute Tonanlage, sonst geht zuviel verloren …
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